Riemann- und Lebesgue-Integral < Analysis < Hochschule < Mathe < Vorhilfe
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(Frage) beantwortet | Datum: | 17:10 Fr 03.12.2004 | Autor: | Bastiane |
Hallo!
Mir ist da gerade mal eine Frage gekommen, die richtig mathematisch erklärt wahrscheinlich ein Buch füllen würde, ich hätte aber gerne einfach was "zum Merken", also nicht mathematisch bis ins kleinste Detail. (ungefähr so was, wie man Stetigkeit dadurch beschreibt, dass man die Funktion mit einem Strich zeichnen kann)
Und zwar:
Das Integral, dass man auf der Schule lernt, ist doch das Riemann-Integral, oder? Da führt man das ein mit Unter- und Obersummen - sind das die Riemann-Summen? (Ich dachte das bisher immer, aber jetzt habe ich hier irgendwas mit Treppenfunktionen stehen oder ist das sogar genau das Gleiche?)
Und was ist dann das Lebesgue-Integral? Kann man sich das irgendwie kurz vorstellen und gilt dabei auch, dass [mm] \integral{f}'=f?
[/mm]
Ich hoffe, es gibt dafür eine kurze Erklärung...
Und noch was: Ist jede Riemann-integrierbare Funktion auch Lebesgue-integrierbar aber nicht umgekehrt? (Hierfür will ich auch keinen Beweis, sondern nur ein kurzes ja oder nein, damit ich es mir erstmal einfach nur merken kann.)
Viele Grüße
Bastiane
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(Antwort) fertig | Datum: | 18:14 Fr 03.12.2004 | Autor: | Stefan |
Liebe Christiane!
Ja, das Integral, das du in der Schule kennengelernt hast, ist das Riemann-Integral.
Die Konstruktion von Riemann- und Lebesgue-Integral ist sehr unterschiedlich. Während man beim Riemann-Integral eine immer feinere Zerlegung des Urbildbereiches der zu integrierenden Funktion vornimmt (und bezüglich dieser Zerlegung Treppenfunktionen definiert), nimmt man diese Zerlegung bei Lebesgue-Integral im Bildbereich vor. Man schaut sich also bei der letzteren Konstruktion solche Mengen an wie:
(*) [mm] $\left\{x \in \IR^n\, : \, \frac{i}{2^n} \le f(x) < \frac{i+1}{2^n}\right\}$,
[/mm]
nur mal so als Beispiel, zerlegt also den Bildbereich in Teilintervalle der Länge [mm] $\frac{1}{2^n}$ [/mm] für immer größere $n$. Dann schreibt man den Treppenfunktionen auf diesen zugehörigen Urbildmengen in (*) feste Werte zu. Bei Riemann-Integral, da wirst du dich aus der Schule erinnern, zerlegt man ja das Intervall, auf dem die Funktion definiert ist, in immer kleinere (zumeist äquidistante) Teilintervalle und schreibt den Treppenfunktionen auf diesen Teilintervallen gewisse Werte zu.
Diese unterschiedlichen Vorgehensweisen führen auch zu unterschiedlichen Eigenschaften. Im Allgemeinen kann man sagen, dass das Lebesgue-Integral mächtiger ist, da man dort schönere Konvergenzsätze hat. Wenn ich ein Integral sehe, denke ich seit dem zweiten Semester nur noch in Lebesgue-Integralen, klare Sache. Die Verallgemeinerung auf höherdimensionale Räume ist auch viel einfacher und intuitiver.
Bei konkreten Berechnungen tut sich da aber nicht viel, wie du gleich sehen wirst. "Meistens" stimmen nämlich die beiden Integrale überein. So gilt etwa:
Eine beschränkte Funktion $f:[a,b] [mm] \to \IR$ [/mm] ist genau dann Riemann-integrierbar, wenn die Menge ihrer Unstetigkeitsstellen eine Lebesgue-Nullmenge ist, und dann stimmt das Riemann-Integral von $f$ mit dem Lebesgue-Integral überein.
Ein bekanntes Beispiel einer Funktion, die Lebesgue-, aber nicht Riemann-integrierbar ist, ist die Dirichlet-Sprungfunktion:
$f : [mm] \begin{array}{ccc} [0,1] & \to & \IR \\[5pt] x & \mapsto & \left\{ \begin{array}{xxx} 1 & , & \mbox{falls} \quad x \in \IQ \cap [0,1],\\[5pt] 0 & , & \mbox{sonst}. \end{array} \right. \end{array}$
[/mm]
Da $f$ überall unstetig ist, ist klar, dass $f$ nicht Riemann-intergrierbar sein kann (siehe obige fettgedruckte Bemerkung). Andererseits ist $f$ als charakteristische Funktion der Borelschen Nullmenge [mm] $\IQ \cap [/mm] [0,1]$ natürlich Lebesgue-integrierbar mit [mm] $\int\limits_{[0,1]} f\, d\lambda [/mm] = 0$.
Es kommt sogar noch dicker: Es gibt auch Lebesgue-integrierbare Funktionen, die nicht Lebesgue-fast sicher mit einer Riemann-integrierbaren Funktion übereinstimmen!!
Im Übrigen braucht eine Riemann-integrierbare Funktion nicht Borel-messbar zu sein.
Langer Rede, kurzer Sinn: Man kann vereinfachend und zusammenfassend sagen:
Jede eigentlich Riemann-integrierbare Funktion ist Lebesgue-integrierbar, und die Integralwerte stimmen überein. Die Umkehrung gilt natürlich nicht.
Wie sieht es jetzt mit dem spannenderen Teil aus, den uneigentlichen Riemann-Integralen?
Hier gilt die folgende Beziehung:
Ist $I [mm] \subset \IR$ [/mm] ein Intervall und $f: I [mm] \to \IR$ [/mm] Riemann-integrierbar über jedes kompakte Teilintervall von $I$, so ist $f$ genau dann Lebesgue-intergrierbar über $I$, wenn $|f|$ uneigentlich Riemann-integrierbar ist über $I$, und dann stimmt das uneigentliche Riemann-Integral von $f$ über $I$ mit dem Lebesgue-Integral überein.
Wichtig ist hier, dass der Betrag von $f$ (und nicht etwa $f$ selbst) uneigentlich Riemann-integrierbar sein muss. Das eröffnet eine gewisse Klasse von Funktionen, die zwar uneigentlich Riemann-integrierbar sind, nicht aber Lebesgue-integrierbar.
So existiert zum Beispiel das uneigentliche Riemann-integral
[mm] $(R-)\int\limits_0^{\infty} \frac{\sin(x)}{x}\, [/mm] dx$,
wie man leicht mit partieller Integration und dem Cauchy-Kriterium zeigen kann.
Aber: [mm] $\left\vert\frac{\sin(x)}{x}\right\vert$ [/mm] ist nicht uneigentlich Riemann-integrierbar (betrachte mal die Teilintegrale von [mm] $k\pi$ [/mm] bis [mm] $(k+1)\pi$, [/mm] dann erhältst du ein Vielfaches der harmonischen Reihe als divergente Minorante).
Daher ist $x [mm] \mapsto \frac{\sin(x)}{x}$ [/mm] über [mm] $]0,+\infty[$ [/mm] nicht Lebesgue-integrierbar.
Zu deinen weiteren Fragen:
$f: [a,b] [mm] \to \IR$ [/mm] sei differenzierbar und $f'$ beschränkt. Dann ist $f'$ Lebesgue-integrierbar über $[a,b]$ und es gilt:
[mm] $\int\limits_a^b f'\, d\lambda [/mm] = f(b) - f(a)$.
Warnung: [mm] $\red{f'}$ [/mm] braucht nicht Riemann-integrierbar zu sein!
Ist weiter $f : [a,b] [mm] \to \IR$ [/mm] Lebesgue-integrierbar, dann ist die Funktion
$F(x) := [mm] \int\limits_a^x f(t)\, [/mm] dt$
Lebesgue-fast überall differenzierbar mit $F'(x) = f(x)$ Lebesgue-fast überall.
So, es gibt noch mehr zu sagen, aber es gibt auch noch mehr zu arbeiten für mich.
Liebe Grüße
Stefan
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(Mitteilung) Reaktion unnötig | Datum: | 20:45 So 05.12.2004 | Autor: | Bastiane |
Hallo Stefan!
Jetzt habe ich mir auch mal ein paar Minuten Zeit genommen, diese Antwort von dir durchzulesen. (hat gar nicht so lange gedauert, wie ich dachte, und ich habe denke ich schon das meiste verstanden)
Also, danke, dass du mir das so schön erklärt hast - ich glaube, wenn man die Sätze auch nur ein kleines bisschen erläutert, werden sie schon klarer (außerdem hast du die wahrscheinlich aus dem Kopf aufgeschrieben, oder?). Jedenfalls habe ich mehr verstanden, als wenn ich sie in einem Buch nachgelesen habe.
Und ich glaube, für die nächste Zeit habe ich eine gewisse Vorstellung von den Integralen, dein Text wird ausgedruckt aufbewahrt, und falls ich doch nochmal ne Frage haben sollte, melde ich mich wieder.
> So, es gibt noch mehr zu sagen, aber es gibt auch noch mehr
> zu arbeiten für mich.
Ja, natürlich! Das war auch dicke genug - ausgedruckt zwei Seiten, viel mehr kann ich sowieso auf einmal gar nicht aufnehmen, dann könnte ich ja auch wieder ein Buch lesen und da an jedem zweiten Satz irgendetwas nicht verstehen. Und danke, dass du auch mal deine Arbeit für mich unterbrichst...
Viele Grüße
Christiane
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